Sonntag, 13. Dezember 2015

Der Wanderer

Und als ich von den Hängen des Gebirges zu Tarahk Shek hinabgestiegen kam, traf ich am Rande des Weges einen Mann, der zu mir sprach.
Ruhigen Schrittes hatte ich zu dieser Zeit den langen Schattengang des Passes hinter mir gelassen, umrundete den letzten der breiten, inmitten des rauen Pfades ruhenden Sandfelsen mit seinen Inschriften und sah nun in stiller Freude, wie sich mir jedem neuen Schritt weit vor mir das ersehnte Tal eröffnete, in dessen Mitte der See Laisaa im Lichte der Sonnen glänzte und an seinem Ufer unter dem dünnem Dunstschleier des Morgens Basav, die Rote Stadt, in ihren Mauern lag und schlief.

Dort am Rande des Weges hinab ins Tal jedoch stand, gelehnt auf einen Wanderstock, eine schmale Gestalt in hellem Umhang. Ich kann nicht sagen, ob sie erst bei meinem Erscheinen den Blick hob oder ob sie mich kommen sah und, mir längst schon entgegen blickend, mich erwartet hatte. Freundlich trat ich an den Mann heran und wir tauschten den Gruß des Wanderers aus, wie er in diesem Teil des Landes üblich war.

Als ich nun aber mit der Geste des Abschieds beiseite treten und meinen Weg hinab ins Tal von Basav fortsetzen wollte, erkannte ich, dass der Mann mich in seinem tiefen Blicke weiter freundlich gefasst hielt. Also verharrte ich in meiner Bewegung und wartete. Einige Zeit stand der Mann nun da, still mit dem Kinn auf seinen hohen Wanderstock hinabgesunken, und schien mein Gesicht zu studieren. Vielerlei Falten hatte das Alter in seine Züge gegraben und erinnerten mich an die zahllosen Felsen, die, von Wind und Wetter geformt und zerfurcht, meinen beschwerlichen Weg durch das Gebirge gesäumt hatten. Schließlich aber hob der Wanderer die Stimme und redete.

Er sprach von den kargen Wüstenlandschaften von Tzun, die er in der Hitze der Sonnen noch als Knabe durchwandert, von den gelben, wogenden Steppen des Plateaus zu Vaart-Tashuun, die er als kräftig heranwachsender Mann durchquert, von den reichen, saftigen Waldlanden, die sich unter wogenden Nebeln an den roten Ufern des Jorogh entlangzogen, den er erreicht und dem er viele Jahre lang mit weiten Abschweifungen gefolgt war. Niemals sesshaft war er gewesen, niemals ruhend, immer weiter hatte es ihn gelockt, bald hinein in die geheimnisvollen und wenig bereisten Ländereien, die sich hinter den hohen Felsen von Quarang bis zu den Hügelebenen bei Gundack eröffneten, bald in die namenlosen Täler im Schatten des Berges Risun, die verdunkelten Passagen durchquerend, bald den großen See Chachach in langem Marsche umrundend. Schließlich, nach einem Leben der Wanderschaft sei er, schon ergrauend, zum Gebirge zu Tarahk Shek gekommen und war nun dabei, diese ersten seiner sandigen Ausläufer mit der Ruhe des alten Wandersmannes zu besteigen.

Er redete von den vielerlei Orten, die er auf seinem langen Wege besichtigt und in denen er verweilt hatte, von den schimmernden Toren der Weißen Stadt Godawan, von Klonggock, der großen Bergarbeiterstadt, vom meerumschlungenen Zaa, von den Dörfern zwischen den schwesterlichen Flüssen Siib und Gaschur, denen er bis hinab zu den Fällen auf dem Plateau von Sogarhan gefolgt war, über dem hoch erhoben Hulfa, die Stadt des zweiten Mondes, thronte und unter den Lichtern der Nacht wachte.
Und er berichtete von den geheimnisvollen Stätten, die auf diesem langen Wege seines Lebens mit äußerem als auch innerem Auge ehrfürchtig bestaunt habe, von der geheimen Bibliothek des Schaffur, zu der er Zutritt erlangt und dem Orakel von Halaagaahn, das er still umwandelt, von den Ruinen der Stadt Tosh, die er andächtig gesenkten Kopfes durchschritten habe.

In all diesen Zeiten, so fuhr aber der alte Wanderer nun fort, habe er vielerlei Kunde erhalten und nicht zu zählende Pergamente und Inschriften in den Sprachen lange schon vergessener Völker entziffert, dieses wiedererlangte Wissen mit seinem immer neuen Kenntnissen um die Welt in Einklang gebracht, bis sich ihm alsbald die große Weisheit zu eröffnen begann, die bereits, wie ihm auf langem Wege immer deutlicher wurde, lange schon in allem der Welt als auch in ihm selbst greifbar und nah gewesen war, gleich einer Truhe, die trotz ihres goldenen Beschlages, ihrer mit funkelnden Steinen besetzten Deckels unscheinbar geblieben war, deren Schloss nun jedoch mit einem einzigen kurzen und feinen Geräusch vor ihm aufzuspringen und ihren kostbaren Inhalt preiszugeben schien, der ihm, dem schon reifen Wanderer, nun mit unvergleichlichem Glanze entgegenschimmerte.

Die Geschichte unserer Welt, so sagte er, wobei er sich nach langer Rede von seinem Wanderstab erhob und nun mit Hand und Arm einen weiten Bogen beschrieb, die Geschichte unserer Welt mit all ihren Legenden hätte sich ihm in nie dagewesener Breite und in nie gekannter Fülle der Einzelheiten mit einem einzigen Male auf ein Neues eröffnet: Die Wunderfahrt des Labart zu den Toren von Teschwur, zwischen den lichten marmornen Säulen hindurch auf den sprudelnden Wassern des Ureg Bondack habe er aufs Neue durchlebt, den Abstieg des letzten Propheten zu den schwarzen Meeresgründen, den schreckensreichen Kampf der zweihundert Armeen von Tohork gegen den riesenhaften König Tzoban, das Erscheinen der drei heiligen Tore in den Wäldern um den Berg Pnom, die Himmelsbesteigung des Reisenden von Xuun zur einsam verlassenen Wolkenfestung Banart-Woot – all das habe er vor seinem inneren Augen erneut, in lebendigster Bewegung und in hellstem Lichte entstehen und erstrahlen sehen.

Und all dies, das lebendige Wissen, die lebendige Geschichte der Geschichten, die Legende der Legenden, die ein so dichtes Netz in ihm geknüpft und gewebt hatten und das ebenso auf gleiche Weise die Welt in Erinnerungen durchzog, all dies habe ihm, so sprach endlich der Wanderer, der bereits wieder auf seinem Wanderstock zur Ruhe sich gesenkt hatte und mich aus der Tiefe seiner Augen jetzt wie in immer schwereren Träumen versinkend ansah, all dies habe in ihm gleich eines lange schon im Dickicht überwachsenen und verborgenen, nun durch einen Strahl hellen Mondeslichts in dunkelster Nacht schimmernden Pfades deutlich werden und die unabweisbare Erkenntnis in ihm heraufdämmern lassen, dass unser Gott sich lange schon von uns abgewandt habe.

Bei diesen Worten durchfuhr es mich und für einen langen Moment war es mir, als würde etwas in mir erstarren. Zwar kannte ich wohl die Weise, die, seit ich denken konnte und doch schon so lange, die Welt durchzog, seit der dritte Mond Soroban aus den Himmeln gefallen und verloren war. Doch jetzt, hier, aus dem Munde des alten Wanderers vor mir und seinen so kenntnisreichen Worten folgend, rührte es mich in der Tiefe an und ich stand atemlos, als wäre ich blinden Auges geradewegs an die felsige Mauer einer Burg gestoßen, die sich unbemerkt auf meinem Wege erhoben hatte.
Alle Legenden, so fuhr der Mann mit gedämpfter und ruhiger Stimme fort, als ich weiter starr stand und Ruhe in mein Innerstes zu bringen versuchte, alle Erzählungen deuteten darauf hin, alle Schriften, die er in seinem langen Leben gefunden und studiert hatte. Und auch die Stimmen der Geister, die er am Bergpass bei Rhandarak und in den Stätten von Rasa, in Besphel und Jurikart vernommen hatte, verkündeten voller Jammer, was er nun als Wahrheit erkannte: Dass unser Gott uns verlassen hatte.

Doch warum nur, fiel ich da fragend und lauter als ein, es mein Wille gewesen war, denn ich konnte nicht mehr an mich halten, warum habe sich unser Gott von uns abgewandt? Was hätten wir getan, welchen Frevel hätten wir als Menschen, unsere Väter und Urväter denn begangen?
Der Wanderer aber schüttelte nur stumm den Kopf und hob erst nach langen Augenblicken an: Die Gründe dieser Abkehr, so sprach er mit sicherer Stimme, seien nicht und niemals zu ermitteln. Sie könnten sowohl in für unsere Augen vollkommen nichtig erscheinenden Dingen liegen, genauso gut jedoch auch in einem schrecklichen Verbrechen, welches sich in schier unendlich lange zurückliegender Vergangenheit der Welt ereignet habe. Genauso gut aber könne sich ein solches Unheil in unsagbar ferner Zukunft erst noch abspielen. Ebenso aber könne ein solches auch jetzt, genau in diesem Augenblick, stattfinden und dabei stetig sich wiederholen. Auf der anderen Seite jedoch könne all dieses Suchen nach Ursachen und Gründen irgendeiner Art ganz und gar fruchtlos bleiben, denn letztlich könnten jene Gründe gänzlich außerhalb unseres Einflusses liegen – oder aber der Begriff der Ursache oder des Grundes an sich sei unzutreffend. Ein leises Seufzen entwich dem Wanderer und für einen Moment schien ihn ein Schauer zu durchwandern. Er umfasste den Wanderstock fester, während er den Kopf senkte und die Augen schloss.

Als ich ihn so mit gesenktem Blicke stehen sah, dachte ich an die Verkündigungen des Propheten Mirash, der gedeutet hatte, dass unser Gott seinen Thron lediglich verlassen und sich hinab auf Erden begeben habe, um als stiller und unerkannter Wanderer durch alle Lande der Welt zu ziehen und mit jedem Schritt und jedem Blick wort- und tonlos das zu loben, was sei, war und sein werde. So heilvoll wirkten dieser Gedanken einer vollkommenen Hinwendung statt einer Abwendung, dass ich ein tiefes Sehnen sich gleich einem warmen, heilsamen Dunst in mir ausbreiten spürte.

Da jedoch erhob der Mann vor mir seinen Kopf und als mich sein Blick traf, fühlte ich die Kühle, die in ihm lag und nun war ich es, der erzitterte und den Kopf senkte. Für einen Moment sah ich den Boden unter mir verschwimmen. Ich fühlte und wusste nicht mehr, wohin mein Weg mich führen, was mich an seinem Ende erwarten, ja ob ich dieses Ende denn je erreichen würde. Ganz gleich kam mir mein schon so nahes Ziel, die Rote Stadt Basav im Dunst des Morgens, in diesen Augenblicken vor, alle meine Gründe waren von mir gewichen. Ich schwankte. Klein und ohne Halt fühlte ich mich, wie ich dort auf dem Pfad an den Hängen des Gebirges von Tarahk Shek stand und zweifelte, umgeben von dieser ja so unendlich weiten und rätselhaften Welt voller wundersamer Orte und Geschichten, die in einem Moment alles, im nächsten Moment nichts zu bedeuten schienen.
Dann, irgendwann, fasste ich mich und ohne es ganz zu wollen war mein Blick, der sich nun hinauf zum Wanderer vor mir erhob, fest und entschlossen. Und dieser, der jetzt aufrecht dastand, den Wanderstock sicher und bereit in der Rechten hielt und meinen Blick erwiderte, nickte nur, ganz ohne Trotz und bösen Willen.

Schließlich verabschiedeten wir uns und der alte Mann schritt an mir vorüber, den Pfad hinauf, ebenso wie ich nun mich umwandte und meinen Weg weiter hinab ging, dem entgegen, was mich erwarten würde.

(Erschienen im Schnipsel #13)