Sonntag, 13. Dezember 2015

Der Wanderer

Und als ich von den Hängen des Gebirges zu Tarahk Shek hinabgestiegen kam, traf ich am Rande des Weges einen Mann, der zu mir sprach.
Ruhigen Schrittes hatte ich zu dieser Zeit den langen Schattengang des Passes hinter mir gelassen, umrundete den letzten der breiten, inmitten des rauen Pfades ruhenden Sandfelsen mit seinen Inschriften und sah nun in stiller Freude, wie sich mir jedem neuen Schritt weit vor mir das ersehnte Tal eröffnete, in dessen Mitte der See Laisaa im Lichte der Sonnen glänzte und an seinem Ufer unter dem dünnem Dunstschleier des Morgens Basav, die Rote Stadt, in ihren Mauern lag und schlief.

Dort am Rande des Weges hinab ins Tal jedoch stand, gelehnt auf einen Wanderstock, eine schmale Gestalt in hellem Umhang. Ich kann nicht sagen, ob sie erst bei meinem Erscheinen den Blick hob oder ob sie mich kommen sah und, mir längst schon entgegen blickend, mich erwartet hatte. Freundlich trat ich an den Mann heran und wir tauschten den Gruß des Wanderers aus, wie er in diesem Teil des Landes üblich war.

Als ich nun aber mit der Geste des Abschieds beiseite treten und meinen Weg hinab ins Tal von Basav fortsetzen wollte, erkannte ich, dass der Mann mich in seinem tiefen Blicke weiter freundlich gefasst hielt. Also verharrte ich in meiner Bewegung und wartete. Einige Zeit stand der Mann nun da, still mit dem Kinn auf seinen hohen Wanderstock hinabgesunken, und schien mein Gesicht zu studieren. Vielerlei Falten hatte das Alter in seine Züge gegraben und erinnerten mich an die zahllosen Felsen, die, von Wind und Wetter geformt und zerfurcht, meinen beschwerlichen Weg durch das Gebirge gesäumt hatten. Schließlich aber hob der Wanderer die Stimme und redete.

Er sprach von den kargen Wüstenlandschaften von Tzun, die er in der Hitze der Sonnen noch als Knabe durchwandert, von den gelben, wogenden Steppen des Plateaus zu Vaart-Tashuun, die er als kräftig heranwachsender Mann durchquert, von den reichen, saftigen Waldlanden, die sich unter wogenden Nebeln an den roten Ufern des Jorogh entlangzogen, den er erreicht und dem er viele Jahre lang mit weiten Abschweifungen gefolgt war. Niemals sesshaft war er gewesen, niemals ruhend, immer weiter hatte es ihn gelockt, bald hinein in die geheimnisvollen und wenig bereisten Ländereien, die sich hinter den hohen Felsen von Quarang bis zu den Hügelebenen bei Gundack eröffneten, bald in die namenlosen Täler im Schatten des Berges Risun, die verdunkelten Passagen durchquerend, bald den großen See Chachach in langem Marsche umrundend. Schließlich, nach einem Leben der Wanderschaft sei er, schon ergrauend, zum Gebirge zu Tarahk Shek gekommen und war nun dabei, diese ersten seiner sandigen Ausläufer mit der Ruhe des alten Wandersmannes zu besteigen.

Er redete von den vielerlei Orten, die er auf seinem langen Wege besichtigt und in denen er verweilt hatte, von den schimmernden Toren der Weißen Stadt Godawan, von Klonggock, der großen Bergarbeiterstadt, vom meerumschlungenen Zaa, von den Dörfern zwischen den schwesterlichen Flüssen Siib und Gaschur, denen er bis hinab zu den Fällen auf dem Plateau von Sogarhan gefolgt war, über dem hoch erhoben Hulfa, die Stadt des zweiten Mondes, thronte und unter den Lichtern der Nacht wachte.
Und er berichtete von den geheimnisvollen Stätten, die auf diesem langen Wege seines Lebens mit äußerem als auch innerem Auge ehrfürchtig bestaunt habe, von der geheimen Bibliothek des Schaffur, zu der er Zutritt erlangt und dem Orakel von Halaagaahn, das er still umwandelt, von den Ruinen der Stadt Tosh, die er andächtig gesenkten Kopfes durchschritten habe.

In all diesen Zeiten, so fuhr aber der alte Wanderer nun fort, habe er vielerlei Kunde erhalten und nicht zu zählende Pergamente und Inschriften in den Sprachen lange schon vergessener Völker entziffert, dieses wiedererlangte Wissen mit seinem immer neuen Kenntnissen um die Welt in Einklang gebracht, bis sich ihm alsbald die große Weisheit zu eröffnen begann, die bereits, wie ihm auf langem Wege immer deutlicher wurde, lange schon in allem der Welt als auch in ihm selbst greifbar und nah gewesen war, gleich einer Truhe, die trotz ihres goldenen Beschlages, ihrer mit funkelnden Steinen besetzten Deckels unscheinbar geblieben war, deren Schloss nun jedoch mit einem einzigen kurzen und feinen Geräusch vor ihm aufzuspringen und ihren kostbaren Inhalt preiszugeben schien, der ihm, dem schon reifen Wanderer, nun mit unvergleichlichem Glanze entgegenschimmerte.

Die Geschichte unserer Welt, so sagte er, wobei er sich nach langer Rede von seinem Wanderstab erhob und nun mit Hand und Arm einen weiten Bogen beschrieb, die Geschichte unserer Welt mit all ihren Legenden hätte sich ihm in nie dagewesener Breite und in nie gekannter Fülle der Einzelheiten mit einem einzigen Male auf ein Neues eröffnet: Die Wunderfahrt des Labart zu den Toren von Teschwur, zwischen den lichten marmornen Säulen hindurch auf den sprudelnden Wassern des Ureg Bondack habe er aufs Neue durchlebt, den Abstieg des letzten Propheten zu den schwarzen Meeresgründen, den schreckensreichen Kampf der zweihundert Armeen von Tohork gegen den riesenhaften König Tzoban, das Erscheinen der drei heiligen Tore in den Wäldern um den Berg Pnom, die Himmelsbesteigung des Reisenden von Xuun zur einsam verlassenen Wolkenfestung Banart-Woot – all das habe er vor seinem inneren Augen erneut, in lebendigster Bewegung und in hellstem Lichte entstehen und erstrahlen sehen.

Und all dies, das lebendige Wissen, die lebendige Geschichte der Geschichten, die Legende der Legenden, die ein so dichtes Netz in ihm geknüpft und gewebt hatten und das ebenso auf gleiche Weise die Welt in Erinnerungen durchzog, all dies habe ihm, so sprach endlich der Wanderer, der bereits wieder auf seinem Wanderstock zur Ruhe sich gesenkt hatte und mich aus der Tiefe seiner Augen jetzt wie in immer schwereren Träumen versinkend ansah, all dies habe in ihm gleich eines lange schon im Dickicht überwachsenen und verborgenen, nun durch einen Strahl hellen Mondeslichts in dunkelster Nacht schimmernden Pfades deutlich werden und die unabweisbare Erkenntnis in ihm heraufdämmern lassen, dass unser Gott sich lange schon von uns abgewandt habe.

Bei diesen Worten durchfuhr es mich und für einen langen Moment war es mir, als würde etwas in mir erstarren. Zwar kannte ich wohl die Weise, die, seit ich denken konnte und doch schon so lange, die Welt durchzog, seit der dritte Mond Soroban aus den Himmeln gefallen und verloren war. Doch jetzt, hier, aus dem Munde des alten Wanderers vor mir und seinen so kenntnisreichen Worten folgend, rührte es mich in der Tiefe an und ich stand atemlos, als wäre ich blinden Auges geradewegs an die felsige Mauer einer Burg gestoßen, die sich unbemerkt auf meinem Wege erhoben hatte.
Alle Legenden, so fuhr der Mann mit gedämpfter und ruhiger Stimme fort, als ich weiter starr stand und Ruhe in mein Innerstes zu bringen versuchte, alle Erzählungen deuteten darauf hin, alle Schriften, die er in seinem langen Leben gefunden und studiert hatte. Und auch die Stimmen der Geister, die er am Bergpass bei Rhandarak und in den Stätten von Rasa, in Besphel und Jurikart vernommen hatte, verkündeten voller Jammer, was er nun als Wahrheit erkannte: Dass unser Gott uns verlassen hatte.

Doch warum nur, fiel ich da fragend und lauter als ein, es mein Wille gewesen war, denn ich konnte nicht mehr an mich halten, warum habe sich unser Gott von uns abgewandt? Was hätten wir getan, welchen Frevel hätten wir als Menschen, unsere Väter und Urväter denn begangen?
Der Wanderer aber schüttelte nur stumm den Kopf und hob erst nach langen Augenblicken an: Die Gründe dieser Abkehr, so sprach er mit sicherer Stimme, seien nicht und niemals zu ermitteln. Sie könnten sowohl in für unsere Augen vollkommen nichtig erscheinenden Dingen liegen, genauso gut jedoch auch in einem schrecklichen Verbrechen, welches sich in schier unendlich lange zurückliegender Vergangenheit der Welt ereignet habe. Genauso gut aber könne sich ein solches Unheil in unsagbar ferner Zukunft erst noch abspielen. Ebenso aber könne ein solches auch jetzt, genau in diesem Augenblick, stattfinden und dabei stetig sich wiederholen. Auf der anderen Seite jedoch könne all dieses Suchen nach Ursachen und Gründen irgendeiner Art ganz und gar fruchtlos bleiben, denn letztlich könnten jene Gründe gänzlich außerhalb unseres Einflusses liegen – oder aber der Begriff der Ursache oder des Grundes an sich sei unzutreffend. Ein leises Seufzen entwich dem Wanderer und für einen Moment schien ihn ein Schauer zu durchwandern. Er umfasste den Wanderstock fester, während er den Kopf senkte und die Augen schloss.

Als ich ihn so mit gesenktem Blicke stehen sah, dachte ich an die Verkündigungen des Propheten Mirash, der gedeutet hatte, dass unser Gott seinen Thron lediglich verlassen und sich hinab auf Erden begeben habe, um als stiller und unerkannter Wanderer durch alle Lande der Welt zu ziehen und mit jedem Schritt und jedem Blick wort- und tonlos das zu loben, was sei, war und sein werde. So heilvoll wirkten dieser Gedanken einer vollkommenen Hinwendung statt einer Abwendung, dass ich ein tiefes Sehnen sich gleich einem warmen, heilsamen Dunst in mir ausbreiten spürte.

Da jedoch erhob der Mann vor mir seinen Kopf und als mich sein Blick traf, fühlte ich die Kühle, die in ihm lag und nun war ich es, der erzitterte und den Kopf senkte. Für einen Moment sah ich den Boden unter mir verschwimmen. Ich fühlte und wusste nicht mehr, wohin mein Weg mich führen, was mich an seinem Ende erwarten, ja ob ich dieses Ende denn je erreichen würde. Ganz gleich kam mir mein schon so nahes Ziel, die Rote Stadt Basav im Dunst des Morgens, in diesen Augenblicken vor, alle meine Gründe waren von mir gewichen. Ich schwankte. Klein und ohne Halt fühlte ich mich, wie ich dort auf dem Pfad an den Hängen des Gebirges von Tarahk Shek stand und zweifelte, umgeben von dieser ja so unendlich weiten und rätselhaften Welt voller wundersamer Orte und Geschichten, die in einem Moment alles, im nächsten Moment nichts zu bedeuten schienen.
Dann, irgendwann, fasste ich mich und ohne es ganz zu wollen war mein Blick, der sich nun hinauf zum Wanderer vor mir erhob, fest und entschlossen. Und dieser, der jetzt aufrecht dastand, den Wanderstock sicher und bereit in der Rechten hielt und meinen Blick erwiderte, nickte nur, ganz ohne Trotz und bösen Willen.

Schließlich verabschiedeten wir uns und der alte Mann schritt an mir vorüber, den Pfad hinauf, ebenso wie ich nun mich umwandte und meinen Weg weiter hinab ging, dem entgegen, was mich erwarten würde.

(Erschienen im Schnipsel #13)

Dienstag, 17. November 2015

Montag, 23. Februar 2015

Fragment #15: Die Peinigung des Jürgen Carlos

I

»In einem weit entfernten und gänzlich unzugänglichen Teil der Welt gibt es in der Weite der Meere eine Insel, die niemand je besichtigt hat und die auf keiner Karte verzeichnet ist. Das Eiland ist so klein, dass auf ihm gerade eben Platz genug für eine schiefe Hütte und ein kleines, eng umgrenztes Feld ist, auf dem einige Maispflanzen wachsen.

Inmitten dieses Feldes und seiner Pflanzen nun steht Jürgen Carlos. Er ist von schmaler Statur, sein Körper ist so dünn und drahtig, dass er leicht unter den Pflanzen verschwinden könnte -- würde er nur aufrecht und erhoben dastehen. Doch Jürgen Carlos ist gekrümmt, tief herab gebeugt, sodass seine Stirn fast den Boden berührt, während seine Hände hinab baumeln und seine Füße unter geknickten Beinen nackt im Schmutz des Feldes stehen. Seine Haut glänzt vor Schweiß und Fett, die Haare kleben ihm auf der Stirn so wie ihm Hose und Hemd schmutzig am dünnen Körper kleben, denn hoch über ihm steht im stets wolkenlosen Himmel die Sonne und brennt und lodert gleißend heiß auf das Eiland herab.

Wenn er sich so in seiner gebeugten Haltung langsam durch das Feld schiebt, kann er kaum einen Schritt weit in jene Richtung sehen, in die er sich zu bewegen sucht. Aber er muss sich bewegen, denn vielerlei Besorgungen sind zu tätigen: Immerzu rufen die Pflanzen nach Wasser, das aus einer kleinen Pumpe beschafft werden will, die gleich neben der krummen Hütte steht. Doch jeder Zug dieser Pumpe ist eine Qual für sich, wenn Jürgen Carlos schließlich bei ihr angelangt ist und die Hände zum Pumparm hebt, denn die Pumpe ist rostig und Öl ist nirgends verfügbar. Will er seinen einzigen, löchrigen Eimer füllen, muss er immer und immer wieder das ganze Gewicht seines dünnen Körpers auf den Pumparm stemmen, um das kleines Rinnsal zu erhalten, das nur in kläglicher Langsamkeit den Eimer füllt. Wenn der Eimer dann irgendwann doch gefüllt ist, hebt ihn Jürgen Carlos mit aller Kraft, die den kümmerlichen Armen in seiner gekrümmten Haltung zur Verfügung steht, an und trägt ihn zurück zum Feld, um den Vorgang des Bewässerns zu beginnen, der doch immer nur unbefriedigend bleibt: denn das Wasser tropft nur so durch die Löcher des Eimers hindurch und versickert sinnlos im Boden, sodass nur ein kleiner Teil des ursprünglich Herbeigeschafften die Pflanzen erreicht, für die es eigentlich bestimmt war.

So vergehen endlos scheinende Tage und Nächte, bis dann endlich einmal die Erntezeit heranbricht. Doch stets ist es eine kümmerliche Ernte, die Jürgen Carlos einbringt, denn immer ergreift eine große Fäulnis die Pflanzen, kaum, dass sie zur Reife kommen: Mit ihren Früchten sterben sie dahin und es bleibt gerade so wenig zurück, dass es reicht, dem Hungertod ein weiteres Mal und nur knapp zu entgehen. So sitzt Jürgen Carlos Abend um Abend in seiner schiefen Hütte schwer auf seinen kleinen Tisch gestützt und vertilgt die wenigen Brocken des Breis, den er sich aus dem zubereitet hat, was ihm von der Ernte geblieben ist, und der seine einzige Nahrung darstellt. Wenn er dann so sitzt, bricht schon bald die Dunkelheit herein und es wird kalt und kälter. Jürgen Carlos lässt sich auf sein dünnes Strohlager fallen, wo er still und bis auf ein Zittern -- denn eine Decke gibt es nicht -- reglos liegt, bis der Schlaf endlich über ihn hereinbricht. Dann, nach viel zu kurzer und unruhiger Nacht, dämmert jedoch auch schon der nächste Morgen herauf und Jürgen Carlos schleppt sich abermals hinaus auf das Feld, um seinem kummervollen Tagwerk nachzugehen.

Es ist ein schweres Gewicht, das auf seinem Rücken lastet und seinen ganzen, dünnen Körper Tag und Nacht und jederzeit biegt und herabzwingt, bis seine Stirn fast den Schmutz des Bodens berührt. So sehr lastet das Gewicht auf ihm, dass sein Rücken, ja sein ganzer Körper knarrt und knackt wie ein trockener Ast, der kurz vor dem endgültigen, erlösenden Brechen steht. Die Schmerzen, die ihn stetig erfüllen, lassen sich nur erahnen, wenn man ihn manchmal in seiner krummen Haltung auf dem Feld stehen sieht, wie die Tränen ihm still aus den Augen rinnen und die wenigen Millimeter hinabtropfen, um sofort gierig vom immer durstigen Boden aufgesogen zu werden. Fast möchte man meinen, fast möchte man hoffen, dass dieses große Gewicht, das auf seinen Rücken gelegt wurde, ihn brechen, ihn schließlich vollends zu Boden zwingen müsste, wo er, der nun Gebrochene, nur noch kauert, die letzten schweren und schon ganz und gar sinnlos gewordenen Atemzüge tut, um endlich dahinzuschwinden. Doch Jürgen Carlos ist es nicht gestattet zu brechen und dahinzuschwinden: Es ist sein Schicksal, immerzu unter der schweren Bürde des Gewichts, das ihm auferlegt wurde, seinem Tagwerk nachzugehen. Und er fühlt und weiß mit jeder Pore seines schmerzhaft gekrümmten Körpers, dass dies alles kein Ende nehmen wird, dass es keinen Ausweg gibt. So schiebt er sich allein zwischen den schon wieder sprießenden Maispflanzen auf jener Insel hindurch, die niemand je besichtigt hat und die auf keiner Karte verzeichnet ist.

Das Gewicht aber, das seinen Rücken allezeit so schmerzhaft hinabdrückt, ist das einer Schuld: unserer Schuld. Jürgen Carlos ist zur Qual gemacht, einer Qual, die wir ihm auferlegt haben und stetig auferlegen, sodass sein Rücken knarrt und knackt. Keine Erlösung kann und wird er finden, weder Tod noch Wiederauferstehung sind vorgesehen für ihn. Er ist nicht unser Märtyrer und nicht unser Retter. Er wird nicht für uns sterben und wird uns in keine bessere Welt führen. Alles, was er tut, ist stetig zu leiden unter der Last, die wir ihm verschaffen, mit jeder unserer Taten, mit jedem unserer Gedanken. Er leidet nicht für uns, sondern immer nur durch uns, und es gibt keine Tat, die seine Schuldlast nicht vermehrt, keinen Gedanken, der das Gewicht auf seinem Rücken nicht weiter wachsen und seine Knochen nur noch lauter knarren und knacken lässt. So taumelt oft der Gepeinigte, so wankt er bei seiner schweren Arbeit auf dem Felde und doch findet er immer wieder zurück ins Gleichgewicht, muss er zurück ins Gleichgewicht finden. Er, Jürgen Carlos, wird nicht fallen, er wird nicht liegen und vergehen, es ist nicht seine Aufgabe: denn er ist geschaffen, unsere Schuld endlos zu erdulden. Wir tragen keine Schuld, denn er trägt sie für uns. Alles, was wir sind, wird ihm zur Qual, er ist der Träger von alle dem, das doch uns, so möchte man, so muss man meinen, im Eigentlichen gilt.«

II

»›Hat er denn darum gefragt? Hat er darum gebeten?‹ Oft habe ich mir diese Fragen gestellt und oft bin ich darüber verzweifelt, so oft und so tief gar, dass ich fast daran zerbrochen bin. Und doch stellen sich diese Fragen nicht und selbst wenn sie gestellt werden würden. Denn Jürgen Carlos hört nicht, er würde und könnte nicht antworten, er würde nur weiter die große Last -- unsere große Last doch -- tragen, während der Schmerz weiter stetig seinen Körper durchströmt: in der einen Haltung, die ihm erlaubt ist, zu der sein gekrümmter Körper fähig ist, bei jeder Bewegung, wenn er auf dem Feld arbeitet oder den Pumparm hinabstemmt, sitz und isst oder zitternd auf dem Stroh schläft. Welch große Ungerechtigkeit ist hier am Werke, welch dunkler Geist, welch boshafte Macht hat diesen Weg, diese Verbindung unauflöslich hergestellt? Ich weiß, dass es keine Antwort auf diese Fragen geben kann und ich keinerlei Antworten erhalten werde. Ich werde, solange ich als irdisches Dasein in dieser Welt existiere, alleine mit ihnen bleiben und fühlen, wie sie in mir ihre Kreise ziehen.

Wie oft zog es mich schon, wenn diese Gedanken in mir kreisten wie große schwarze Raubvögel auf der Suche nach Aas, durch den Wald in das Gebirge, wo ich meiner Wut, meiner Verzweiflung freien Raum ließ, wo ich sie unter Tränen hinausschrie und nur mein Echo zur Antwort erhielt? Und manchmal, wenn ich dann heiser, erschöpft und ermattet in der Kälte der Nacht kauerte und der Regen einsetzte, spürte ich schon ein Lachen in mir heraufziehen und ich fühlte und wusste, dass es das Lachen des hereinbrechenden Wahns war, der mich in diesen schlimmsten aller Stunden unweigerlich zu umfangen beginnen musste, wo ich doch dasaß, über Jürgen Carlos nachdachte, der nicht unser Erlöser ist, sondern nur unsere Schuld trägt, und über die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren ist, immer zu widerfährt und widerfahren muss. Denn ich weiß, dass am Ende alles Rufen, alles Denken vergebens und ganz und gar hoffnungslos ist: Es gibt keine Erlösung, keinen Frieden für Jürgen Carlos und es kann nichts davon geben.

Wie wünschte ich doch, ich könnte ihm dieses Gewicht, unsere Schuld, abnehmen! Gäbe es doch eine Möglichkeit, ein winziges Schlupfloch in der Maschine dieser Welt, durch ich das ich mich hindurch und auf das kleine Eiland zwängen könnte! Alle meine Kräfte und meinen Willen würde ich aufwenden! Erst stehe ich dann noch klein am Strand der Insel, doch mit allergrößter Willenskraft wachse ich hinauf, ja in die Höhe und den Himmel schnelle ich! Und schon packe und schleudere ich das unsägliche Gewicht, möge es auch schwerer als alle Welten zusammen sein! Meine Wut ist meine Kraft und meine Wut ist gewaltig! Dann aber, wenn das Werk vollbracht ist, werde ich wieder klein, schrumpfe zusammen, bis ich fast kleiner als noch zuvor bin. Und meine Arme schlingen sich vorsichtig um Jürgen Carlos, der nur dasteht, noch immer krumm, in schmutzigem Hemd und schmutziger Hose, mit der Stirn fast den Boden berührend. Doch da spüre ich schon die Veränderung, die sich nun, wo das Gewicht unserer Schuld von ihm genommen ist, an und in ihm abzuspielen beginnt, und trete zurück. Ich stehe und sehe, wie sich ganz langsam sein Kopf erhebt, wie sein Körper sich ganz von selbst aufzurichten scheint. Und dann, bald schon, sehe ich zum ersten Mal sein Gesicht und ich erkenne in seinen Zügen die Unfasslichkeit des Wunders, das ihm soeben widerfahren ist und das noch immer dabei ist, ihm zu widerfahren. Es scheint ganz ohne sein Zutun zu geschehen, dass sein Körper sich nun immer mehr begradigt und dabei erhebt, er sich fast aus seiner schmerzhaften Krümmung zu entfaltet scheint, bis Jürgen Carlos aufrecht da steht und, noch immer, ohne ganz zu begreifen, zum ersten Mal in seinem Leben der Sonne entgegen blinzelt, während ich nur still dabei stehe und lächele.

Dann schon besteigt er als Kapitän das großes Schiff, das nun vor Ankert liegt. Frohen Mutes steht er am Bug, allen Winden und den gewaltigen Wellen der Meere trotzend, sagenhaften Ländern entgegensteuernd. Ich aber stehe hinter ihm am Steuerrad, willig, jeder seiner Richtungsanweisungen zu folgen! Schnell tragen uns die Fluten hoch hinaus, in die Wolken hinein und durch sie hindurch. Die Kugel der Erde wird klein unter uns, während Jürgen Carlos weiter am Bug steht und ich über das Steuerrad gebeugt dahinter, aufmerksam den Kurs, immer nur hinauf und voran, haltend. Ich sehe ihn, wie ihm das Hemd flattert im Wind des Weltenraumes, die Finger berühren seine Stirn und er sieht voran, dorthin, wohin unsere Reise geht: Hinein in unbekannte Reiche, die keinen Horizont, keinen Tag und keine Nacht mehr kennen, kein Leben und keinen Tod, keinen Untergang und keine Auferstehung. Alle Farben und Formen laufen dort in der Ferne, die nun langsam zur Nähe wird, zusammen und vermengen sich, wir jetzt geradewegs in ihrer Mitte. Die Gischt des Raumes rauscht und zischt um uns, und bald schon hüllen immer dichtere Nebelschwaden unser Schiff ein. Doch wir wissen, dass es gute Nebel sind, in die ich uns, achtsam seinen Befehlen folgend, immer tiefer und tiefer hineinsteuere. Bald teilt der Bug Wellen warmen, süßen Lichts, und schon wallen sie über uns hinweg und durch uns hindurch und ich höre ihren Gesang, der mich durchflutet und mein Innerstes durchströmt. Alles rückt nun um uns zusammen, alle Ferne ist Nähe geworden. Jürgen Carlos senkt die Hand, die eben noch in Beobachtung an der Stirn lag. Er dreht sich zu mir und ein Lächeln erfüllt sein Gesicht. Still wird es dann um uns und alles kommt zur Ruhe. Sein Hemd flattert nicht mehr und ich spüre und erkenne immer deutlicher, dass unser Schiff bereits in einen noch unbekannten Hafen eingelaufen ist. Von meiner Stellung am Steuerrad hinausblickend sehe ich, dass alles um uns Leere und doch Fülle zugleich ist. Ich erkenne, wie Jürgen Carlos die Augen schließt und sich zurück dem Bug entgegen dreht. Erst steht er so noch da, dann aber breitet er die Arme aus und ich sehe, wie er seinen Körper geradezu voraus fallen lässt, vom Bug des Schiffes aus geradewegs voran und hinab. Ich mache einige langsame Schritte hinter meinem Steuerrad hervor, hinüber zur Reling und sehe noch, wie er mit ausgebreiteten Armen fällt und weiß doch zugleich, dass es nicht hinab ist wohin er stürzt, ja dass es keine Bewegung überhaupt noch ist, die er da vor und unter mir vollführt. Er ist nur noch, unbewegt und immerdar und ohne jede Zeit. Alles ist eins in diesem Moment, der kein Moment mehr ist. Jürgen Carlos ist die Welt und die Welt ist Jürgen Carlos und doch weiß ich, das nichts von beidem noch ist. So stehe dort an der Brüstung im Licht der Welten, lege zum Abschied ein letztes Mal die Finger an die Stirn und spüre, dass auch ich in diesem Augenblick meinen Frieden gefunden habe.

Doch sind all diese Gedanken und Visionen letztendlich vollkommen vergebens. Niemals werde ich die Insel betreten, auf der Jürgen Carlos sein Kummerwerk verrichtet, ich werde ihm das Gewicht unserer Schuld nicht abnehmen und kein Schiff mit ihm besteigen, das uns durch die Welten trägt, um bis zu ihren Rändern und darüber hinaus vorzudringen. Weiter liegt das kleine Eiland mit der schiefen Hütte und dem Maisfeld dar und zwischen den Pflanzen steht hinabgekrümmt Jürgen Carlos bei der Arbeit. Auf seinem Rücken aber lastet weiter die schwere Schuld, die wir ihm auferlegt haben und die wir mit jeder Tat und jedem Gedanken ihm immerzu weiter auferlegen.

So wird es mich weiter hinaus und durch die Wälder in das stille Gebirge ziehen und abermals werde ich stehen und in vollem Angesicht der Sinnlosigkeit meiner Tat und meines Denkens rufen und schreien: ›Jürgen Carlos, immerwährender Träger unser Schuld! So verzeihe uns doch, dass wir Dich peinigen bis ans Ende unserer irdischen Tage!‹«

Sonntag, 9. November 2014

Fragment #14: Der Läufer

Lange schon ist der Läufer auf seiner Strecke unterwegs, als er erkennt, dass er geradewegs ins Dunkel läuft. Er hebt die Hand vor Augen und sieht sie nicht. Er blickt hinab, doch da sind keine Beine und Füße, die irgendeinen Boden berühren. Alles, was er jetzt weiß und spürt, ist, dass er nun steht, zitternd und fröstelnd von der plötzlichen Kühle, die ihn umgibt. Es ist ihm, als wäre er schon immer gelaufen, von Anbeginn der Tage, ohne je zu rasten und zu ruhen. Und jetzt, da er zum ersten Male steht, fühlt er das Blut in seinen Schläfen pochen, spürt sein Herz laut schlagen. Schnell geht sein Atem, die Brust hebt und senkt sich unentwegt in flachen Zügen. Er spürt die Hitze in sich, doch von außen hüllt ihn die Kälte des trocknenden Schweißes ein.

Und mit einem Schlag versteht er nun, dass es ein Tunnel ist, in den er geradewegs hinein gelaufen ist. Der Atem stockt ihm, er wendet den Blick nach links und rechts und über sich, doch alles, was er sieht, ist nur undurchdringliches Schwarz. Und auch direkt vor ihm ist kein Ende abzusehen: Der Tunnel, in den er geradewegs hineingelaufen ist und in dem er nun atmend steht und zittert, muss endlos sein.

Eine Zeit lang steht er so im Dunkel und versucht zu begreifen. Langsam kühlt das Blut in ihm ab, das Pochen verschwindet aus seinen Schläfen, der Atem geht tiefer und langsamer. Doch in seinem Kopf bleibt eine Leere zurück. Er versucht sich zu konzentrieren, die Kraft der Gedanken zu bündeln, doch nichts regt sich in ihm: Die Welt in ihm bleibt so leer und dunkel, wie es die Welt um ihn ist.

Dann jedoch wendet er den Kopf, sieht hinter sich und erblickt den Punkt aus hellem, weißen Licht. Geblendet reißt er die Hände hinauf und den Kopf herum, schließt im Krampf die Augen, denn furchtbar stechend, wie Nadeln fuhren ihm die Strahlen des hellen, reinen Lichts in Augen und tief in den Kopf hinein. Er taumelt und schwankt im Dunkel, leise knirschen die Sohlen auf dem rauen Boden. Ein leiser Schrei entweicht ihm und hallt durch den Tunnel. Er stolpert wenige Schritte rücklings, fällt und liegt. Ein unförmiger, blutig roter Fleck tanzt vor seinen geschlossenen Lidern. Sein Kopf ruht auf dem kalten, feuchten Boden, die Hände liegen zitternd neben seinen Wangen. Er spürt seinen Atem in den Raum entwichen. Sein leiser Schrei hallt noch lange im Tunnel nach.

Eine Zeit lang liegt er nur da und sieht das Rot vor sich tanzen. Fast scheinen es Formen, ja Bilder zu sein, die sich dort vor ihm, in ihm zeigen und bewegen. Er denkt noch einmal an das Licht, das so schmerzhaft in seinen Kopf eindrang und ein Zittern durchläuft ihn. Doch jetzt, wenn er so liegt und sich den Moment in Erinnerung ruft, weiß er, dass dort, hinter all der auf ihn so stechend wirkenden Helligkeit etwas verborgen lag, etwas verborgen liegen musste, das dieses Leuchten erzeugte. Und jetzt, wo das Rot vor seinen Lidern tanzt, glaubt er, einen Abglanz davon in diesen wabernden Formen wieder zu erkennen. Für einen kurzen Moment glaubt er zu erkennen, glaubt er zu sehen, und hält den Atem an. Er erhebt, ohne zu wissen, was er da tut, die Hand, das zu umfassen, was er dort, wenn auch in rötlichen Schemen als Abglanz erkennt, zu greifen, es an sich und zugleich sich selbst zu ihm empor zu ziehen. Da jedoch erkennt er, dass das Rot bereits zu dunkeln beginnt. Die Formen lösen sich auf, werden zu einem dünnen, rötlichen Nebel und verschwinden schließlich ganz. Noch bleibt seine Hand erhoben, doch er weiß bereits, dass das, was sie eben noch greifen wollte, unerreichbar fern, entrückt und unmöglich zu ergreifen ist, schon immer war und auch immer sein wird. So sinkt die Hand zurück auf den kalten, feuchten Boden und liegt.

Nur einförmiges Schwarz bleibt vor seinen Lidern zurück und als der Läufer endlich die Augen öffnet, ändert sich nichts. Bald findet er wieder zu sich, hebt sich zunächst vorsichtig auf die Knie und steht kurz darauf schon wieder mit beiden Beinen auf dem Boden, erst schwankend, dann immer fester. Er spürt, wie langsam und sicher sein Herz nun schlägt, wie tief und ruhig sein Atem ein und aus geht. Die Kühle auf seinem Körper fühlt er schon nicht mehr, denn längst ist der Schweiß getrocknet. Er steht nur da, im Nichts und atmet.

Irgendwann beginnt der Läufer zu laufen, erst langsam, dann immer schneller, bis er seinen alten Rhythmus gefunden hat, der ihn einst in den Tunnel führte. Er wagt es nicht, den Kopf noch einmal zu wenden. Sein Blick bleibt, so glaubt er, nach vorn in das absolute Dunkel gerichtet und es ist diese Richtung, in die er läuft und läuft.

Donnerstag, 14. August 2014

Fragment #13: Die Wand

Wir standen nebeneinander in der weiten Fläche der Landschaft. Kühl lagen meine nackten Füße auf dem weißen Marmor, das sich in feingefugten Fliesen glänzend und von vielerlei Mustern durchzogen in alle Richtungen ausbreitete und irgendwo in der Distanz als gerade Horizontlinie auf das helle Blau des Himmels traf. Die ferne Sonne stand ungetrübt hoch über uns. Ein leichter Wind bewegte unsere Gewänder. Ein feiner Hauch von Sommer lag in der Luft, wie aus fernen Landen zu uns herangetragen.

»Siehe«, begann er, indem er mir einen kurzen Blick zuwarf, sodass ich meine Augen auf ihn richtete, »diese Welt ist hoch und breit und tief.« Er breitete ruhige die Arme aus, und an seinen Gelenken fiel der Stoff der Ärmel hinab.

Ich nickte stumm und ließ meine Augen noch einmal über die Landschaft wandern.

»Diese Welt ist fest und gerade. Kein Riss durchzieht sie, ihre Kanten sind scharf umzeichnet und ohne Grat. Nichts können die inneren Kräfte ihr anhaben.«

Und als ich seine Worte hörte und mich zugleich umsah, war es mir, als würde sich seine Aussage bestätigen: Die Horizontlinie, an der das Marmor mit dem Blau des Himmels zusammentraf, schien klarer hervorzutreten. Die feinen Fugen der Fliesen zu meinen Füßen erschienen mit deutlicher als zu vor. Ja ich spürte nun den Wind bewegter auf meiner Haut, den Sommergeruch frischer in meiner Nase. Ein angenehmer Schauer durchzog mich und ich schloss lächelnd die Augen. Und hier, allein im inneren Dunkel, nahm ich auch die Klänge der Welt klarer und heller war, den Windes über der endlosen Fläche, das leise Rauschen unserer Gewänder, das Atmen des Meisters und sogleich mein eigenes, das ruhige Pochen des Herzens in meiner Brust, das Säuseln des Blutes in meinen Ohren.

»Und so…«, begann er nun und ich öffnete die Augen wie aus aus einem tiefen, erholsamen Schlaf, »Und so bleiben wir im Außen, die Welt bleibt in ihrer Festigkeit erhalten. Das Muster verändert sich nicht und bleibt stabil.« Für einen Moment schwieg er und Stille kehrte ein, doch diesmal spürte ich eine erwartungsvolle Spannung in mir. Ich hatte meine Augen auf ihn gerichtet, wie er da stand, das Gesicht ausdruckslos, den Blick in die Ferne gerichtet. Für einen Moment wandte er den Kopf und sah mich an, ohne zu sprechen. Seine schmalen Lippen lagen locker aufeinander, die Brauen waren leicht erhoben. Doch in den Augen darunter lag eine kühle Tiefe und ich glaubte für diese eine Sekunde, etwas in seinem Blick zu erkennen – oder war es viel mehr hinter seinem Blick? Ich hielt den Atem an. Es war, als würde sich dort, hinter dem Schimmern seiner Pupillen etwas entfalten, das ich nicht kannte. Doch schon wandte er den Blick wieder ab, zurück dem Horizont entgegen. Zugleich jedoch erhoben sich erneut seine Arme, doch diesmal streckte er sie zielstrebig voran, die Handflächen seiner kleinen, faltigen Händen vorausgerichtet. Es sah aus, als würden diese Handflächen und die langen, dünnen Finger auf einer unsichtbaren Wand zum Liegen kommen.

»Die Welt ist fest gerade, das Muster bleibt stabil«, fasste er zusammen, den Blick auf seine Hände gerichtet. »Doch was ist, wenn wir unseren Standpunkt verändern?«

Und wie als Antwort begann er nun langsam, seinen Oberkörper zur rechten Seite hin zu verschieben, so weit, dass seinen Füße einen kleinen Seitenschritt machten. Seine Hände jedoch ruhten weiterhin fest auf der unsichtbaren Wand. Zugleich schob er Kopf und Oberkörper ein wenig voran, bis sich seine Stirn fast auf Höhe der Hände befand. Dabei wandte er den Blick, so als wolle er geradewegs hinter das sehen, was hinter seinen Händen verborgen liegen musste.

»Was sehen wir?«, fragte er nun, ohne seine Haltung zu verändern. »Was liegt dahinter?«

Er verblieb noch für einige Augenblicke in seiner Position, ohne ein weiteres Wort zu sagen oder eine Frage zu stellen. Dann begann er, seinen Körper zurück in die Ausgangsposition zu bewegen, bis er wieder mit vorausgestreckten Händen da stand. Erst nach einiger Zeit drehte er nun noch einmal den Kopf und diesmal war sein Blick ein anderer: Die dünnen Lippen waren fest aufeinandergepresst, die gräulichen Brauen hielt er etwas zusammengezogen. Wieder lag ein kühler Blick in seinen Augen, doch diesmal war dort noch mehr, was ich nicht zu deuten wusste, Regungen und Bewegungen in der Tiefe, wie Schwaden, die durch einen mir unbekannten Raum trieben. Ich schluckte unwillkürlich. Er musste das Wort nicht aussprechen, denn ich wusste, das ich an der Reihe war.

Also schritt ich langsam an seinem Rücken vorüber und trat nach vorn, direkt neben ihn. Ich sog einmal tief die kühle Luft ein und beugte mich voran, an seinen Händen vorbei, so wie er es gerade selbst getan hatte.

»Was siehst Du?« hörte ich ihn von links sprechen und spürte eine Unruhe in seiner Stimme. Noch einmal atmete ich ein und versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was vor mir lag. Aus dem Augenwinkel sah ich seine Finger, die an der unsichtbaren Wand liegen mussten, doch vor mir erstreckte sich nichts weiter, als die immergleiche Marmorlandschaft, der immergleiche Horizont.

»Die Wand!« hörte ich da und zuckte zusammen. Ich schloss für eine Sekunde die Augen und atmete die Spannung aus, die sich in mir angesammelte hatte. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich es: Eine Starre durchzog meinen Körper, mein Mund öffnete sich. Wieder hörte ich meinen Herzschlag, doch diesmal viel näher und lauter. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Mein Körper atmete ein und mit lautem Brausen strömte die Luft in meinen Mund und meine Lunge.

»Du siehst«, hörte ich seine Stimme, wie aus weiter Ferne, wie aus einer anderen Welt, einem anderen Reich, »Du siehst!«

Und tatsächlich sah ich. Seine Hände befanden sich weiter in meinem Blickfeld und sie lagen auf der Wand, welche die Welt von dem trennte, was dahinter lag. Ich fühlte, wie mein Lippen versuchten, Worte zu Formen, Gebete an Götter zu murmeln, die ich nie gekannt hatte. Ich stand allein und sah in das Dunkel.